Das kleine italienische Städtchen Urbania döste in der Mittagshitze. Es wirkte wie ausgestorben. Kein Mensch nirgends. Wir wollten uns die Mumien in der Chiesa dei Morti ansehen, aber fanden die dazugehörige Kirche nicht. Und auch keinen, den wir fragen konnten. Eigenartig. Waren die Einwohner auch schon alle mumifiziert? Die Bedingungen schienen ideal: warm, trocken und ab und zu wehte ein frisches Lüftchen.
Urbania besitzt morbiden Charme und einen hervorragend nagenden Zahn der Zeit. In diesem Städtchen hätte Lucio Fulci einen seiner Horrorfilme drehen können („Don’t torture a duckling“, „Ein Zombie hing am Glockenseil“ u.a.).
Als wir die „Kirche der Toten“ endlich gefunden hatten, standen wir vor verschlossenen gotischen Toren. Denn die Mumien hatten gerade Mittagspause. Bis 16:30 Uhr.
Die kleine mittelalterliche Stadt wollte also erstmal entdeckt werden, bevor sie uns ihre Mumien zeigte. Urbania liegt in der italienischen Region Marken in der Nähe der Universitätsstadt Urbino. Sie hieß früher Casteldurante und verdankt ihren Namen Papst Urban VIII., der sie 1636 in den Rang einer Stadt mit Bistum erhob. 7.000 Menschen leben heute in Urbania (angeblich ;)) am Fluß Metauro, der sich grünschillernd entlang der imposanten Stadtmauer schlängelt.
Wir schlenderten durch die Arkadengänge, entdeckten einen Antikladen in den Gewölben der Stadtmauer und blieben dann in einer ruhigen Seitenstraße auf den einladenden Sitzbänken vor der „Trattoria Del Buongustaio Da Doddo“ hängen. Das war eine gute Entscheidung. Nicht nur der Aperol Sprizz war erfrischend, sondern auch die selbstgemachten Ravioli echt der Knaller! Wahre italienische Küchenkunst. Zum Abschied gab uns der freundliche Kellner noch einen Wein aus, der sehr lecker nach Sherry schmeckte. Ach, ich liebe die Italiener!
Die Mumien machten es also richtig – Mittagspause ist wichtig.
Gut gefüllt und mit eingeSPRIZZter Flughöhe schlenderten wir durch die Arkadengänge Urbanias zurück zur Chiesa dei Morti. Dort öffnete uns pünktlich um 16:30 Uhr ein netter, älterer Herr die Kirchentore. Für nur 2 Euro Eintritt versprach er uns einen „English Guide“ zu holen. Bis dahin konnten wir schon mal rein und durften alles fotografieren ohne Blitz. Das war regelrecht als Aufforderung formuliert.
Tatsächlich kam nach 10-15 min ein rundlicher, jüngerer Mann, der uns in einer Privatführung mit großer Leidenschaft jede der 18 Mumien vorstellte. Er sprach Englisch mit deutschen „Einsprengseln“ und war so sympathisch und lebhaft, dass wir gern Trinkgeld gaben. Es war Giovanni Maestrini – der Wächter und Verwalter der Mumien von Urbania.
Totenkirche und Mumiengeschichte(n)
Die Totenkirche von Urbania ist eher eine Kapelle und wurde von den Eheleuten Cola im Jahre 1380 errichtet. Beim Betreten steht man direkt im Kirchenschiff und hat es nicht weit bis zum Altar. 1816 wurde ihre Verwaltung an die „Bruderschaft des guten Todes“ – Confraternita della Buona Morte – übertragen.
Der Ursprung der „Bruderschaften der Barmherzigkeit“ oder, wie sie oft genannt wurden, des Guten Todes, ist sehr alt. Es handelt sich um fromme Gemeinschaften, die im Osten um das 4. und 5. Jahrhundert entstanden und den Klöstern anvertraut waren. Sie widmeten sich der Aufgabe der Nächstenliebe, in dem sie erstens den Kranken halfen, wobei sie ihr eigenes Leben riskierten, da sie selbst den Ansteckendsten beistanden, und zweitens all jenen ein würdiges Begräbnis sicherten, die es sich nicht leisten konnten (damit die Seelen der Armen nicht ewig im Fegefeuer schmoren).
Die Geschichte der Mumien von Urbania beginnt im 16. Jahrhundert.
1537 wurde die Confraternita della Buona Morte in Casteldurante/Urbania gegründet und sollte bis ins Jahr 1983 bestehen. Die Brüder kümmerten sich u.a. um die Sterbebegleitung, den kostenlosen Leichentransport und die Eintragung aller Toten in die Bücher.
Die Beerdigung der Leichen fand hinter der Kapelle statt – neben dem Kloster und der Kirche San Francesco, auf einem Grundstück, das als Friedhof genutzt wurde.
1804 erwirkte Napoleon Bonapartes Edikt von Saint Cloud, dass Friedhöfe aus hygienischen Gründen außerhalb der Stadtmauern zu verlegen sind. Bestattungen in und um Kirchen, Kapellen, Hospitälern u. ä. waren verboten, nur das Errichten von Epitaphen oder Grabsteinen war erlaubt. 1806 trat das Edikt auch im Königreich Italien in Kraft. Daraufhin begann man in Urbania mit der Exhumierung der Leichen hinter der Cola-Kapelle und fand 15 fast völlig unversehrte Körper.
Ursache war ein Schimmelpilz (Hipha bombicina pers), der diese Leichen ganz oder zu einem großen Teil überzogen hatte. Er zog die Feuchtigkeit und Flüssigkeit aus ihrem Körper und deckte sie gleichzeitig „luftdicht“ ab. Das stoppte die Verwesung. Neben Skelett und Haut sind bei den meisten Mumien auch die inneren Organe und bei einigen sogar Haare und Genitalien erhalten.
Die Bruderschaft des Guten Todes beschloss 1833 die mumifizierten Leichen hinter dem Altar der Cola-Kapelle auf- und auszustellen, die seither als Totenkirche / Chiesa dei Morti bezeichnet wird.
Optisch stilvoll sind die Mumien wie in einer halb-ovalen Holz-Schrankwand arrangiert. In zehn Nischen stehen die 18 Mumien meist zu zweit, manchmal bis zu drei in einer Vitrine. Diese wurden erst 1983 gebaut, um zu verhindern, dass Touristen die Leichen berühren.
Über jeder Vitrine sind geschnitzte Schriftrollen mit lateinischen Sprüchen, die anregen sollen, über die eigene Sterblichkeit nachzudenken. Ich kann kein Latein, aber schaute trotzdem gern nach oben und ließ mich von den vielen Schädeln auf dem Kranz des Schrankes beäugen.
Als ob die Mumien noch nicht genug wären, prangt auch noch ein Kronleuchter aus Schädeln, Oberschenkel- und Schienbein-Knochen im Raum. Er ist das Werk eines österreichischen Militärarztes, der während des Ersten Weltkriegs im Kloster in der Nähe der Kirche inhaftiert war.
Die Entdeckung der sehr gut erhaltenen Leichen erregte besonders die Aufmerksamkeit des Prior der Bruderschaft Vincenzo Piccini. Er arbeitete als Chemiker und war der Apotheker der Stadt. In jenen Jahren war das biologische Wissen noch sehr begrenzt, und Piccini war überzeugt, dass jemand eine Salbe hergestellt haben musste, die die Leichen austrocknen und ihre Zersetzung verhindern konnte. Also beschloss er, die Leichen eingehend zu untersuchen, um das Mittel selbst herzustellen, das auf ihn und seine Familie aufgetragen werden sollte. Es ist ihm offenbar gelungen, denn er, seine Frau und sein Sohn wurden auf nicht natürliche, chemische Art mumifiziert.
Prior Vincenzo Piccini steht als Schirmherr der Toten allein in einer Vitrine in der Mitte der Krypta. Er trägt die Tracht der Bruderschaft: ein weißes Gewand mit einem schwarzen Kapuzenumhang, das die Brüder des Guten Todes traditionell bei Beerdigungszeremonien trugen. In der Vitrine links vom Eingang sind seine Frau Maddalena, die sehr alt wurde und an Osteoporose starb, und sein Sohn vereint.
Durch Abgleich mit dem Sterberegister der Stadt und intensiven Untersuchungen von Wissenschaftlern u.a. in Pisa, Innsbruck und vom National Geographic, konnten die Todesursachen der 15 Leichen nachvollzogen werden.
Zu den ältesten Mumien gehört die des Bäckers Lunano, der seiner Zunft gemäß einen sehr großen Bauch gehabt haben muss. Das sieht man an der üppigen, noch erhaltenen Bauchhaut (siehe Bild in der Mitte). Rechts von ihm steht „der Bucklige“ und links ein Junge, der am Down-Syndrom / Trisomie 21 erkrankt war.
Und dann ist da der gruselig, das Gesicht in Schmerzen verzerrte Mann. Er litt an Katalepsie – das Herz schlägt langsam und die Körpertemperatur sinkt. Der arme Kerl war scheintot und wurde lebendig begraben. Mediziner hatten im 16. Jhd. nicht so viele Mittel, den Tod sicher festzustellen. Man machte Pulskontrolle, Abhören des Herzschlags oder stellte ein Glas Wasser auf den Brustkorb um an den feinen Wasserbewegungen zu sehen, ob doch noch Leben in ihm ist. Die Atmung überprüfte man mit Spiegeln vorm Mund oder indem man Kerzen und Federn vor die Nase hielt. Hier hatte man sich wohl nicht so viel Arbeit gemacht und er erwachte in seinem Grab. Der Mann hat eine noch erkennbare Gänsehaut, sein Bauch ist eingedrückt und sein Gesicht spricht Bände.
Andere sind Zeugen eines gewaltsamen Todes: ein Mann, der durch Erhängen getötet wurde und sich noch in der gleichen kontrahierten Körperhaltung befindet wie am Tag seiner Hinrichtung, und ein anderer, der während der Nachtwache bei einem Fest getötet wurde. Im Herzen des Opfers, von dem eine Scheibe im Querschnitt erhalten ist, die stolz von Giovanni Maestro im Widerschein des Knochen-Leuchters präsentiert wurde, kann man noch deutlich das Loch mit quadratischem Querschnitt des Stiletts erkennen, das ihn getötet hat.
Selten war ich Verstorbenen, die schon 400 Jahre tot sind, gefühlt so nahe gekommen. Zum einen räumlich, denn die Krypta ist klein und zum anderen ihrem Ab-/Leben. Es war, als hätten die Mumien selbst über ihre Zeit erzählt. Fast berührte es mich. Ob ich selbst gern nach meinem Tod eine Vitrinen-Bestattung als Mumie hätte… da bin ich mir nicht sicher. Man wäre zwar ein toter Zeitzeuge, aber so eine richtig gute Figur macht man in diesem Zustand auch nicht mehr. Gern würde ich aber meinen Schädel & Gebein für die Einarbeitung in einen Kronleuchter zur Verfügung stellen.
Weitere Quellen: www.iluoghidelsilenzio.it (gute Fotos!), The Mummies‘ Caretaker – Urbino Project 2017, Storica National Geographic, Bizzaro Bazar